Nun also doch…

Politik im Alltag.

In der letzten Zeit habe ich mich viel mit türkischer Politik auseinandergesetzt und finde das wirklich ganz schön kompliziert. Viele politische und parteiliche Entwicklungen haben unglaublich viele Verwurzelungen in der Entwicklung/Geschichte des Landes, Parteien haben sich gegenseitig beeinflusst, wurden umbenannt, wurden zusammengeführt. Mit der Zeit sind so ziemlich große Fronten entstanden, die ja nun auch mit großen Konfliktpotential dastehen. Gänzlich habe ich die Strukturen noch nicht verstanden, aber immerhin werden meine Einblicke größer.
In der Türkei haben nicht einzelne Städte Bürgermeister, die entsprechend einer Partei zugehörig sind, sondern (Stadt)Bezirke/Kreise (die ganz korrekte Übersetzung aus dem Türkischen wäre wohl „Kommune“) werden von BürgermeisterInnen unterschiedlicher Parteien geführt. Das macht es für eine Außenstehende wie mich noch viel undurchsichtiger.

Gerade Anfang der Woche wurde die Bürgermeisterin von dem Bezirk Diyarbakır, Gültan Kisanak, im Osten der Türkei samt ihrem Stellvertreter inhaftiert. Gültan Kisanak ist Mitglied der deutlich kurdischen BDP, die der HDP zuzuordnen ist. Die Regierung wirft der HDP Nähe/Unterstützung der PKK vor, weshalb sie nun mit dem neu eingerichteten „Anti-Terror-Trupps“ PolitikerInnen dieser Parteien besonders kontrollieren. Historisch gesehen wird Gültan Kisanak wohl auch noch Nähe zu Fethullah Gülen zugeschrieben, was das Konfliktpotential zur (AKP-)Regierung zum Kochen bringt. In dem Bezirk Diyarbakır ist das Internet nun fast vollständig gesperrt, Truppen durchsuchen immer noch Büros und Häuser.

„Der Osten ist doch weit weg von Istanbul!“ könnte man jetzt sagen. Richtig. Deshalb bekommt man hier eigentlich auch gar nichts mit. Gültan Kisanak ist aber für die kurdisch ausgerichtete Politik eine so wichtige Politikerin, dass es auch hier in Istanbul zu Protesten kam.
Gestern gab es wohl (davon habe ich nichts mitbekommen) eine Mini-Demo in Taksim. Heute früh wunderte ich mich über unglaublich viele Polizei-/Mannschaftswagen auf der Istiklâl, der großen Einkaufsstraße in der Innenstadt. Die Polizei wappnete sich für eventuelle Proteste/Ausschreitungen/… . Abends waren die  Wagen alle wieder weg, ich gehe davon aus, dass nichts passiert ist.
Heute Abend hatte ich mich eigentlich zum Tahvla-Spielen bei mir im Viertel verabredet. Auf dem Weg zur Fähre wurde ich dann von meiner Bekannten angerufen, dass wir das Treffen lieber auf morgen verschieben sollten. Die HDP habe bekannt gegeben, ihre Meinung zu den Inhaftierungen laut in allen Straßen Kadıköys kund zu geben. Das ist eine für dieses Viertel eigentlich nicht so gefährliche Angelegenheit, aber es gäbe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Regierung mit entsprechenden Trupps einschreiten würde und das könnte gefährlich werden. Also: Treffen auf morgen verschoben.
Zugegebenermaßen habe ich absolut gar nichts davon mitbekommen. Auf dem Weg nach Hause war die Stimmung auf den Straßen keine andere und auch von zu Hause habe ich nicht mehr Sirenen als sonst oder Hubschrauber o. Ä. gehört. Aber in diesem Fall geht wohl Vorsicht vor Neugierde. Meine beiden Mitbewohner sind unterwegs – ich bin gespannt, ob die irgendetwas zu erzählen haben, oder ob das „einfach nur“ eine übervorsichtige Warnung war.

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